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Gleis X

12. September 1997Von: Maya KünzlerViews: 7059

Das Basler Musical «Gleis X»

Coole HipHop-Inszenierung

HipHop auf der Theaterbühne: Die Uraufführung «Gleis X» im Birsfelder Roxy zeigt, wie Theaterkunst und Jugendkultur zusammengebracht werden können.

Letzten Freitag abend im Roxy in Birsfelden (BL): Ganz spezifische Begrüssungsrituale unter den jungen Männern in T-Shirts und Turnschuhen, die Frauen meist sorgfältig zurechtgemacht mit leichtem Sexy-Touch. Mit einem fulminanten Auftakt schmissen sich zwanzig Jugendliche und eine Profischauspielerin (Margot Gödrös) in die Uraufführung von «Gleis X», einem Stück Theater über die Basler HipHop-Szene, einer Aufführung, wie es sie laut Pressetext in dieser Art in der Schweiz noch nie gegeben habe.

Obschon die jungen HipHopperInnen zwischen 17 und 25 meist noch in Ausbildung oder im Beruf engagiert sind und während sechs Wochen, mit Ausnahme der Wochenenden, nur abends geprobt werden konnte, spielte sich vor den Augen des Publikums kein Schülertheater ab. Professionalität, ein Anspruch, mit dem der Autor und Produzent Skelt!, der Regisseur Tom Ryser und Anne Schöfer, Dramaturgin vom Theater Basel, an das Projekt herangingen. Bevor Skelt!, Tagger-Name* des Autors und HipHop-Aktivisten, und der Theatermann Ryser ihre Zusammenarbeit aufnahmen, haben sie sich gegenseitig erst vorsichtig beschnuppert. Was ihn an den jungen HipHopperInnen angezogen habe, sei ihre Vitalität und eine fantastische Kreativität, meinte der Regisseur in einem Gespräch. Ob sich diese im Rappen, im Break-Dancing, im Graffiti-Sprayen oder im Scratchen ausdrücke, immer zeige sich dabei der Ehrgeiz, einen ausgeprägt individuellen Stil zu entwickeln, um damit «fame» und «respect» zu erlangen. «In der Kreativität finden wir etwas, was uns die Gesellschaft nicht geben kann», schreibt Black Tiger als Essenz seiner Biographie im Programmheft.

Ryser sah seine Aufgabe vor allem darin, das vorhandene Potential in theatergerechte Kanäle zu leiten und für die Bühne zu abstrahieren. Von den jugendlichen Schauspielerinnen hörte er nicht auf, die Einlösung ihrer cool-trotzigen Philosophie zu fordern, ihre eigene «community» und nicht den Staat zu repräsentieren und genau diesen Geist in die Arbeit einfliessen zu lassen. Natürlich wurde der ursprüngliche Text gekürzt, wurden Passagen umgestellt und zusätzliche Szenen eingefügt. Es ist die Geschichte einer Selbstfindung eines HipHoppers der zweiten Generation und gleichzeitig die des Verlusts jenes spezifischen, identifikationsstiftenden Gruppengefühls im Moment, als er sich gesellschaftlich etabliert. Tarek Abu Hageb (verkörpert von Samir Abdel Hakeim) - Anm. des Webmasters: Genau UMGEKEHRT! ;) - muss sich einerseits den von ihm verletzten ungeschriebenen Gesetzen einer HipHop-Posse** und andererseits der Jugendanwaltschaft stellen, da er beim illegalen Sprayen erwischt worden ist.

Können die Kunstform Theater und Jugendkultur überhaupt zusammengebracht werden, ohne dass die HipHop-Kultur einem Zähmungsakt unterzogen wird? Um das Authentische an HipHop möglichst zu wahren, singt oder spricht mit zungenbrecherischer Schnelligkeit jeder Rapper seine selbst komponierten «rhymes» im Stück - in Basler Dialekt, versteht sich. Auch hat man es unterlassen, die Sprache von obszönen Slang-Wörtern zu reinigen. Die Umgangssprache ist unter den HipHopperInnen nur zweitrangig im Vergleich zur kraftvollen Körpersprache und der Fabulierlust in den Rap-Songs. So mag es manchmal auf den/die ZuschauerIn leicht komisch wirken, wenn sich diese im Grunde doch so sympathischen Typen der rüdesten Strassenausdrücke bedienen: das aber ist ihre Sprache!

Kulturelle Werte des europäischen HipHop orientieren sich an afroamerikanischen, insbesondere an New Yorker Standards und an MTV-Reality. Haben wir es in «Gleis X» also vor allem mit Klischeefiguren zu tun, die sich dessen zu allem Überfluss nicht einmal bewusst sind? Skelt! selbst hat nach dem Realgymnasium eine ordentliche kaufmännische Ausbildung absolviert. Ebenso bewegen sich in der HipHop-Szene Jugendliche, die aus zerrütteten Familien kommen und oft hart hindurchmussten. Mag sein, dass einige «das Ghetto» in ihrer Biographie überbewerten. Letztlich, so das Credo Skelt!'s, ist im HipHop nicht entscheidend, woher jemand stammt, sondern, was er mit sich anfängt. Da sie in «Gleis X» ihre eigene Welt abbilden, sich als «Weiche» von jenen Gruppierungen, die sich ihre Identität nur über Gewalt definieren, klar abgrenzen, mag man als Erwachsene über so viel positiven, gar affirmativen Geist staunen.

Die Widerständigkeit aber zeigt sich letzlich in der coolen Haltung gegenüber der Konsumwelt und der medial vernetzten Neuen Weltordnung. Mit Pager, Computer und Hightech weiss einE HipHopperIn spielerisch umzugehen, schlängelt sich zielsicher durch den Dschungel des Einkaufsangebots und nimmt sich, was er/sie braucht. Die Entstehung von «Gleis X», geschrieben und produziert vom Förderverein für eine neue künstlerische Zusammenarbeit, Bee4Real, ist dafür ein positives Beispiel. Die HipHop-Szene weiss sich zu organisieren und unterhält ein geschäftiges Netzwerk. Wenn man am Ende des Abends den Eindruck nie ganz los wird, dass die Jungs und Mädels im verborgensten Kern der Botschaft eigentlich sich selber feiern - «fame» -, so muss man ihnen zugestehen, dass, wie sie's machen, Echtheitswert hat!

*Tag: Unterschrift des Pseudonyms, überall in der Stadt illegal an Wände angebracht; verweist auf die neue Identität in der Subkultur.
**Posse: Subkulturelle Jugendgruppe, nicht hierarchisch strukturiert; jeder stellt auf seinem Gebiet etwas Besonderes dar.

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